Sonntag, 15. März 2009

Analyse der Situation vor den Präsidentschaftswahlen in El Salvador

Analyse der Situation vor den Präsidentschaftswahlen in El Salvador vom 15. März 2009 durch den Leiter der Schwerizer Wahlbeobachtungsdelegation des Zentralamerika Sekretariats

San Salvador, 14. März 2009 - dd/zas

I

Bei der morgen Sonntag, den 15. März 2009, anstehenden Präsidentenwahl geht es um viel mehr als um die Frage, welcher Mann - Mauricio Funes für die frühere Guerilla FMLN oder Rodrigo Ávila für die seit 20 Jahren regierende extrem rechte Partei ARENA - in die Casa Presidencial einziehen wird: es geht um eine Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Projekten - dem kapitalistischen von ARENA und dem emanzipatorischen des FMLN. Insofern führen die Berichte, welche auf das „moderate“ Profil des FMLN-Kandidaten insistieren, in die Irre. Zwar gibt Funes, der sich erst aus wahlgesetzlichen Gründen in den FMLN eingeschrieben hat, tatsächlich manches von sich, was ihn bestenfalls als gemässigten Sozialdemokraten im Stile der Präsidenten von Brasilien oder Uruguay ausweist. Sich davon aber über Gebühr beeindrucken zu lassen, das wäre ein Fehler – die Rechte hier verfällt ihm nicht. Sie weiss, dass ein Wahlsieg des FMLN mit diesem gemässigten Kandidaten die Tür für grundsätzliche, wenn auch nur langsam erfolgende Veränderungen auftun wird. Ob diese Schwelle dann überschritten wird, hängt von den sozialen Bewegungen und dem FMLN ab.

II

Entsprechend kann es auch nicht überraschen, dass ARENA in der vergangenen Woche keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen liess, einen Wahlsieg des FMLN nie und nimmer anzuerkennen. Das hat seinen Hintergrund. Es gibt tatsächlich verschiedene Elemente und Zeichen auf ganz unterschiedlichen Ebenen, die einen FMLN-Wahlsieg möglich erscheinen lassen: Ergebnisse professioneller Umfragen, Strassenmobilisierung, eine Spaltung in der Rechten bis hinein in relevante Unternehmerkreise, die Zahl der Parteifahnen an den Wagen, Art und Weise der Diskussionen auf den Märkten u.a. Die meisten Umfragen ergeben etwa einen klaren FMLN-Sieg. Das Institut CS-Sondea des Funes-Beraters Hato Hasbun ermittelte in einer aus legalen Gründen nicht mehr veröffentlichten jüngsten Umfrage, dass selbst wenn 90% der sogenannt Unentschlossenen für ARENA stimmen sollten, der FMLN immer noch mit fast 5 Punkten vorne liegen sollte. Dabei gilt zu beachten, dass CS-Sondea mehrmals einen geringeren FMLN-Vorsprung ermittelte als unabhängige universitäre Institute. Natürlich gibt es auch vereinzelte Umfragen von rechten Instituten, die ein Patt oder gar einen knappen Sieg Avilas ermitteln. Doch aufgrund ihres meist schlechten Leistungsausweises in vergangenen Wahlen sind ihre Resultate cum grano salis zu nehmen – zu oft haben sie sich als simple Propagandainstrumente erwiesen.

Aeusserst Beeindruckend war die Mobilisierung des FMLN zur nationalen Schlusskundgebung vom 7. März. Nach plausiblen Berechnungen waren ca. 300’000 Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 6 Millionen) nach San Salvador geströmt. Übereinstimmenden Aussagen von langjährigen Beobachtern zufolge gab es im Land nur 1972 eine vergleichbar grosse Mobilisierung - und dann vielleicht noch bei der Beerdigung von Erzbischof Romero – er war vom ARENA-Gründer Roberto d’Aubuisson umgebracht worden.

Die am Tag nach der Massenmobilisierung des FMLN erfolgte Schlusskundgebung von ARENA brachte nur einen Viertel oder Fünftel an TeilnehmerInnen auf die Beine. Zwar ist es nicht Neu, dass die Linke auf der Strasse mehr Mobilisierungskapazität zeigt als die Rechte (und dennoch oft die Wahlen verliert), doch ist die unbestreitbare Grösse und die enorm enthusiastische Stimmung dieser letzten Mobilisierung doch ein starkes Indiz für einen Umschlag in der Gesinnung vieler Menschen.

Legte man einer Prognose des Wahlausgangs jedoch rein rechnerisch die Resultate der Parlamentswahlen vom 18. Januar 2009 zugrunde, wäre das Ergebnis klar: ARENA gewinnt. Der FMLN hat rund 42% der Stimmen gemach (und ist damit stärkste Partei), ARENA lag bei 38%. Die restlichen Stimmen teilten sich vor allem die zwei Rechtsparteien PCN und PDC, während eine kleine sozialdemokratische Kraft, der CD, sich mit kaum 2 Prozent begnügen musste. Der CD unterstützt nun den FMLN, während die beiden Rechtsparteien ihren jeweiligen Kandidaten zugunsten einer Allianz mit ARENA aus dem Rennen nahmen. Doch so einfach lässt sich nicht rechnen: Im gleichen Masse, wie ARENA mit der neoliberalen Verelendung der vergangenen Jahre identifiziert wird, die auch traditionell rechte Segmente betroffen hat, sind territoriale Strukturen rechter Parteien nicht mehr bereit, in allen Fragen ihrer Führung zu folgen. Dies zeigt sich zum Beispiel in der offen zur Schau gestellten Unterstützung mancher PCN- und PDC-Bürgermeistern für Mauricio Funes.

Während ARENA im Strassenbild klar in jenen Bereichen dominiert, wo Propaganda viel Geld kostet - Plakate, bunt bemalte Lampenmasten etc. -, prägen eindeutig mehr mit FMLN-Wimpeln dekorierte Busse und PWs das Strassenbild. Ähnlich sind auf grossen Überlandstrassen grosse ARENA-Fahnen an Stellen angebracht, an die man nur mit grossen Leitern o.ä. hinkommt, während die kleinen roten Fahnen des FMLN an Büschen und Hütten armer Bevölkerungsteile flattern. A propos Landbevölkerung: Es macht den Anschein, als sei es dem FMLN gelungen, Terrain in jener wertkonservativen armen Landbevölkerung gut zu machen, die bisher geschlossen dem Aufruf von Kirche und lokaler Caciques folgend für die „Obrigkeit“ votiert hatte. Die Folgen dieser blinden Obrigkeitsgläubigkeit - Freihandel und die Zerstörung der Landwirtschaft - beuteln das ländliche Volk und haben wohl weitere Teile wachsam werden lassen.

Auf grossen urbanen Märkten ist dieser Tage eine neue Diskussionskultur zu beobachten. VerkäuferInnen und KundInnen stecken die Köpfe zusammen, versuchen sich ein Bild von der Situation zu machen - ist es denn wahr, ist es Unsinn, dass bei einem FMLN-Sieg der Chavez hier regieren wird? Stimmt es, ist es Propagandalüge, dass eine FMLN-Regierung die Hälfte eines jeden Kleingeschäfts verstaatlichen will? Ist nun der FMLN gewalttätig oder nicht doch viel eher ARENA? Das Hinterfragen wichtigster Propagandainhalte der Rechten, an der Basis gemeinsam betrieben von FMLN- und ARENA-AnhängerInnen, ist ein gutes Zeichen.


III

Ein FMLN-Sieg liegt also in Reichweite. Und das ist der Background für die einheitlichen Stellungsnahmen der letzten Tage aus dem Regierungslager. Sie laufen alle darauf hinaus, dass es keinen FMLN-Sieg geben darf. Beispiele: Letzten Montag erklärte Präsident Saca, die Pflicht demokratischer Parteien bestehe in der Anerkennung der offiziellen Resultate. Seine Regierung werde die Regeln des Spiels so bestimmen, dass es keine destabilisierenden Unruhen geben werde. Das muss als Antwort gesehen werden auf die Mobilisierungen des FMLN 2006, als nur massiver Druck auf der Strasse das Oberste Wahlgericht TSE dazu brachte, den klaren Sieg des FMLN in der Hauptstadt bekannt zu geben und anzuerkennen. Dies, nachdem der gleiche Saca seinerzeit noch am frühen Wahlabend seinen Parteikollegen zum neuen Bürgermeister ausgerufen hatte. Im aktuellen Kontext ist die Drohung evident, solche „Unziemlichkeiten“ nicht mehr hinnehmen zu wollen. In den letzten Tagen sind die Medien voll mit Regierungsverlautbarungen, wonach die Polizei, unterstützt von 2’000 Armeeangehörigen, durchgreifen werde. Schon anlässlich der Parlamentswahlen im Januar konnten Mitglieder unsere Delegation spät nachts kriegsmässig ausgerüstete Polizeikräfte (schwere Maschinengewehre etc.) an neuralgischen Punkten der Hauptstadt beobachten.

Der aktuelle Präsident des TSE, Walter Araujo, ein früherer Fraktionschef von ARENA, besteht seit zwei Tagen darauf, kein Medium dürfe andere als die offiziellen Zahlen des TSE publizieren. Das TSE hat die Medienbesitzer zu entsprechenden Sitzungen geladen und verpflichtet. Dieses Vorgehen hat seine besondere Bewandtnis: Nach der jüngsten Stellungsnahme von Araujo will das TSE bereits um 19 Uhr 30 Lokalzeit erste „vorläufige Ergebnisse“ bekannt geben, die auf der Auszählung von 40 Prozent der Wahlakten beruhen sollen. Vorgestern noch hatte Araujo Resultate schon für 18 Uhr angekündigt. Faktisch ein Ding der Unmöglichkeit, schliessen doch die die Wahllokale um 17 Uhr. Bis die einzelnen Wahltische die Stimmzettel ordnungsgemäss gezählt, die entsprechenden Akten ausgefüllt und die Ergebnisse an die zuständigen Instanzen übermittelt haben, vergeht mit Bestimmtheit mehr als eine Stunde. Der heute verkündete Zeitpunkt von 19 Uhr 30 mag etwas realistischer sein, allerdings nicht für Aussagen auf einer Basis von 40% der Akten. Generell hat sich das TSE einen soliden Schneckenruf erworben – nicht wegen Faulheit, sondern weil das Hinauszögern des Bekanntgebens von Resultaten ein Zeitfenster auftut, diese zu frisieren.

Nun ist es aber so, dass die Parteien aufgrund ihrer Kopien der Wahltischakten natürlich eigene Berechnungen anstellen können. Besonders die Ergebnisse der Parallelauszählung des landesweit gut organisierten und effizent arbeitenden FMLN gelten als recht verlässlich. Mit dem impliziten Verbot für die Medien, gerade diese Resultate bekannt zu geben, will sich die Rechte die Möglichkeit vorbehalten, ihren Kandidaten frühzeitig als Sieger auszugeben und den FMLN in die Position des „schlechten Verlierers“ zu drängen. Sacas ‚Trick’ von 2006 lässt grüssen.
Technisch und organisatorisch steht das TSE in einem schlechten Licht. Anlässlich der Parlamentswahlen im Januar verlieft die Übermittlung und Auswertung von eingescannten oder gefaxten Akten mehr als schleppend und die seitherigen Versuche liefen derart schlecht, dass es für das von einer rechten Mehrheit dominierte TSE eine einfache Sache sein könnte, „unbequeme“ Akten vorerst zu ignorieren und später, bei der am Dienstag einsetzenden definitiven Auszählung, unter fadenscheinigen Gründen als ungültig zu erklären.

In der Frage der Veröffentlichung ‚autenthischer’ Ergebnisse also zeigt das TSE einen Aktivismus, den es in anderen Bereichen wie etwa dem Unterbinden der illegalen „Schmutzkampagne“ partout nicht an den Tag legt. So sind seit Tagen erneut viele Klagen über aus Nachbarländern in Bussen zur Wahlbeteiligung angekarrte gekaufte Wahlkomparsen zu hören, teilweise mit detaillierten ZeugInnenberichten. Die Antwort des TSE: Es weist die Polizei an, mit aller Schärfe gegen jene Delinquenten vorzugehen, die ausländischen Touristen die Reise im Land erschweren wollen. Dabei sind mehrere Berichte bestätigt, die den Transport illegaler WählerInnen beschrieben und kritisiert haben (siehe www.elfaro.net / 15.2.09 und www.observatorio2009fmln.com ). Gemeint sind damit die Beobachter des FMLN, deren Ermittlungen tatsächlich zum Anhalten mehrerer Busse geführt haben. In Guarjila, Departement Chalatenango, haben die Comunidades Drahtseile über die aus Honduras kommende Strasse gespannt und lassen die Leute nur nach Kontrolle durch.

IV

Diese Woche haben die grossen Medien Äusserungen von rund 40 rechtsrepublikanischen US-Kongressabgeordneten in Grossaufmachung wiedergegeben, wonach im Falle eines FMLN-Sieges die Aufenthaltsberechtigung der legal in die USA Emigrierten „überprüft“ und die Geldüberweisungen an die Angehörigen in El Salvador „erschwert“ würden. Dies, da eine FMLN-Regierung zwangsläufig ins antiterroristische Visier gelange, wegen der Verbindungen der Partei mit Teheran, dem Diktator Chavez und den Narkoterroristen der FARC. Es handelt sich dabei um den Versuch, an das Erfolgsrezept von 2004 anzuknüpfen, als ARENA nicht zuletzt mit Verweis auf die Gefährdung der Rimessen Stimmen einheimste, die ihr den Sieg brachten. Erstaunlich daran ist nicht das mediale Dauerbombardement, sondern eher der Zeitpunkt: Ausgewanderte erleben in den USA eine ökonomische Krise, die sie äusserst hart trifft, die Ausschaffungsgefängnisse in den Staten sind übervoll und es zirkulieren bereits erste Berichte von Überweisungen in die andere Richtung: an die Angehörigen in den USA, damit die irgendwie über die Runde kommen!

Und doch ist etwas neu: bereits zwei Tagen nach der Medienhetze betonte die US-Botschaft, sie werde mit jeder gewählten Regierung zusammenarbeiten und dementierte damit faktisch die Hetzkampagne. Kurz darauf liess Tom Shannon, Verantwortlich im State-Department für Lateinamerika, das Gleiche verlauten und der Vorsitzende des auswärtigen Komitees des US-RepräsentantInnenhauses doppelte scharf nach. Auch wenn diese Dementis in den hiesigen Medien nie die gleiche Beachtung erhielten wie die Lügen der Rechten, ist fest zu stellen, dass diese Haltung der Administration Obama die Kampagne schlagartig beendet hat.

V

Natürlich können wir nicht abschliessend einschätzen, ob die Schmutzkampagne der Rechten ‚erfolgreich’ ist und genügend Leute so weit eingeschüchtert hat, dass sie nicht Funes/FMLN wählen. Für morgen zirkulieren im FMLN zwei Szenarien.

A: ARENA gewinnt dank Betrug an den Urnen (gemeint sind damit vor allem ausländische WählerInnen und MehrfachwählerInnen, die im Besitz von authentischen, aber falschen Wahlausweisen sind; aber auch die Behebung der durchgehenden Intransparenz des WählerInnenregisters hat die ARENA-Administration tunlichst vermieden).

B: ARENA verliert trotz Betrug an den Urnen und es obliegt nun dem TSE, die Ergebnisse solange zu frisieren, bis sie „stimmen“. Sollte für den FMLN aufgrund seiner Akten der eigene Sieg aber klar sein, kann und wird er das nicht akzeptieren.

Was dies in einer polarisierten Situation bedeutet, die schon vor den Wahlen zu Toten geführt hat, malen wir uns lieber nicht aus. Es ist zu beachten, und das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für Szenarium A, dass dabei die Wut vieler Leute auf die an der Macht hängenden ARENA-Mafia auch vom FMLN nicht kontrolliert werden kann. So oder so: sollte sich der Eindruck verfestigen, dass ARENA durch Betrug gewonnen hat, kann es sofort, erst im Verlauf der nächsten Tage und Wochen oder einfach anlässlich der Zuspitzung der sozialen Krise zu Eruptionen kommen.

VI

Es mag eigenartig klingen, was uns mehrere FMLN-Kader gesagt haben, aber es kam von Herzen: Sie, die den jahrelangen blutigen Krieg erlebt haben, wünschen ausdrücklicher als alle anderen, dass er nicht wieder aufflamme. Sie hoffen deshalb, dass ARENA einen allfälligen FMLN-Sieg anerkenne. Auch wenn sie wissen, dass eine FMLN-Regierung in Zeiten der grössten Krise antreten muss, um das Schlimmste zu verhüten und mit einem sehr engen Handlungsspielraum. Doch so schwierig diese Zukunft auch sein werde, eine FMLN-Regierung sei immer noch das Beste für das Volk. Um auf diese gigantische Krise auch nur erste soziale Antworten geben zu können, brauche es bescheiden beginnende, aber ehrlich durchgeführte Reformen.

Die ‚kritische’ Betonung, was für ein „potabler“ Kandidat dieser Funes doch sei, so gar kein Radikaler, ein Unternehmerfreund gar, ist eher der Negierung der enormen und dramatischen Dimension, um die es jetzt geht. Diese ‚Kritik’ reflektiert nur eine weitere Facette des Angriffs auf den der zunehmend verarmenden Bevölkerungsmehrheit verpflichteten FMLN. Wer den noch so versteckten Antagonismus leugnet, ist nicht ‚kritisch’ oder neutral, sondern beschönigt den Angriff von oben. Da haben, mit Verlaub, die Leute hier vielmehr begriffen, die mit dieser wahnsinnigen Hoffnung auf ein neues Morgen gegen den Zynismus der Mächtigen angehen - und sei es mit dem Stimmzettel in der Hand.

14.3.09/zas/dd

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